
Es braucht keine große Geste um zu verschwinden – Geschichten von Ulrike Almut Sandig
Ulrike Almut Sandig erzählt vom Verschwinden. Vieles kann verschwinden. Menschen, Freundschaften, Erinnerungen, Pflanzen, Tiere, ganze Kontinente. Aber das ist nicht tragisch. Denn nichts verschwindet wirklich ganz, solange davon erzählt und solange davon gelesen wird. Wo etwas verschwindet, bleibt kein Vakuum, sondern Neues rückt nach, drängt in die Leerstellen und nimmt gleichsam letzte verbliebene Spurenelemente des […]

Lucky Newman – Carl Nixon schreibt einen Roman über das Erzählen und Erinnern
Also, diese Besprechung könnte ich ganz kurz machen. Besispielsweise so: »Kauft und lest dieses Buch, es ist umwerfend gut.« Das wäre ein kurzer Text mit einer klaren Botschaft und obendrein wäre er schnell zu lesen. Ihr würdet viel Zeit sparen. Über das Buch freilich verriete er nichts, außer, dass es mir gefallen hat. Ich sollte deshalb […]

Das Krokodil – Tausche den düsteren Fjodor gegen den lustigen Fido
Die Seele eines Russen ist düster und schwermütig, so lautet ein unausrottbares (Vor)Urteil. Und wenn es gilt den wahren Russen in der russischen Literatur zu benennen, wird ohne zu zögern meist der Name Fjodor Michailowitsch Dostojewski in den Raum geworfen. Allein die Titel seiner großen Romane lassen dies zwingend annehmen: Der Idiot, Verbrechen ud Strafe, […]

Die üble Sache – Ein früher Text von David Foster Wallace
Die üble Sache ist im »Sommer ’71 oder ’72« in das Leben von David Foster Wallace eingedrungen, da war er neun oder zehn Jahre alt. »Erstes Auftreten von depressiven Stimmungen und pathologischer Angst«, schrieb er am Ende seines Lebens in eine Zusammenfassung seiner Krankengeschichte. Die üble Sache hat ihn nicht mehr losgeslassen bis zu seinem […]

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (Zwischenstand)
Frank Witzel hat da ein wahrlich »dickes Ding« geschrieben, einen Roman mit 98 Kapiteln und insgesamt 800 engbedruckten Seiten, eine Herausforderung für den Leser, aber auch ein großes Vergnügen. Vor zwei Tagen hat Frank Witzel seinen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 in der Akademie der Künste […]

Funkelnde Fragmente von Emrah Serbes
Emrah Serbes, 1981 in Yalova geboren, gehört unbestritten zur ersten Garde jüngerer Schriftsteller in der Türkei. Seine Krimis um den desillusionierten Polizisten Behzat Ç. genießen in seiner Heimat Kultstatus und wurden für eine sehr erfolgreiche TV-Serie (Drehbücher von Erkan Mehmet Erdem und Emrah Serbes) adaptiert. Im vergangenen Jahr überzeugte Serbes mit dem fulminanten Erzählband junge […]

Der Löwensucher – Der grandiose Erstling von Kenneth Bonert
Wenn dieser Roman ein Wein wäre und ich ein Weinkritiker, dann könnte, nein, müsste ich schreiben: ein sensationelles Gewächs, sorgfältig ausgebaut, vollmundig und süffig. Über einer erdigen Basis liegen herbe Gewürznoten, die sich mit süßen Fruchtaromen zu einem runden Geschmackserlebnis mischen. Das erste Nippen prickelt auf der Zunge, der erste Schluck schmiegt sich an den […]

Zwischen Tradition und Moderne – Bilder aus Maramureş
Ein gutes Fotobuch erzählt eine Geschichte, manchmal sogar einen ganzen Roman, den Roman eines Lebens, eines Volkes, einer Landschaft oder alles zusammen. Maramureş von Axel Heller ist so ein Buch. Der gebürtige Rostocker hat die entlegene Bergregion im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine zehn Jahre lang regelmäßig besucht. Seine Fotografien lassen uns in […]

Japanische Jahreszeiten – Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten
Vollendet Schönstes auf kleinem Raum mit sparsamsten Mitteln zu gestalten, das ist der Wesenskern aller japanischer Künste. Auf dem Gebiet der Dichtung gebührt dabei dem Haiku die Krone. Drei Zeilen, siebzehn Silben, die wohl kürzeste Gedichtform der Welt. Haiku sind offene Texte. Sie fordern uns auf, sie im Erleben des Lesens zu vervollständigen. Haiku sagen […]

Was wir fürchten – Ein Spiel aus Angst, Paranoia und Kalkül
Das Leben von Georg ist bestimmt vom Wunsch nach Kontrolle und Distanz. Gleichzeitig greift eine alles dominierende Angst nach ihm, die Angst davor, die Zügel des Lebens aus der Hand geben zu müssen, manipuliert oder gelenkt zu werden. Diese Angst hat Georg geformt, er hat sich unter Schmerzen und seelischen Qualen diszipliniert, sich zu einem […]
merk=würdig (I) – Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau
Dieser Beitrag ist der Startschuss zu einer neuen, losen Reihe. Für »merk=würdig« werden aus der Bibliothek kleine Kostbarkeiten und Lieblinge geangelt. Den Auftakt macht der französische Schriftsteller und Dichter Raymond Queneau mit seinem Automaten für 100 Tausend Milliarden Sonette.
»Fährmann, setz über!« – Nominierte Transportarbeiter im Gespräch
Übersetzer sind glückliche Menschen, denn jeder neue Auftrag öffnet und schenkt ihnen neue Welten. Das ist der segensreiche Ausgleich für oft mangelnde Entlohnung. So bringt es Klaus Binder auf den Punkt, der für »seinen Lukrez« als Übersetzer für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 nominiert ist. Als ebenbürtige Konkurentinnen und Konkurrenten laufen auf: Mirjam Pressler […]
Noppensocken und Hüte – Mit Frank Schulz auf Kreuzfahrt
Für Donald Maria Jochemsen ist die FlipperIV ein Albtraum der Meere. Und dennoch schifft sich der unter wechselnden Pseudonymen wechselnd erfolgreiche Kiezkünstler und alternde Offkultur-Bohemien wacker ein. Die angebetete Tänzerin Kristin Luise gilt es zu überraschen. Weil Donald aber erfahren hat, dass auf Kreuzfahrtschiffen immer wieder Passagiere unter mysteriösen Umständen verschwinden, engagiert er als Leibwächter […]
Gestalt des letzten Ufers – Lyrik von Michel Houellebecq
Er ist ein großer Literat und begnadeter Sprachkünstler. Das erkennen selbst Kritiker an, die Michel Houellebecq im gleichen Atemzug seine Berserkerprosa ankreiden und sich über seine frustierten, amoralischen und provozierenden Protagonisten erregen. Seine Romane sind Gesprächsstoff, nach den Terroranschlägen von Paris insbesondere Unterwerfung, sein letztes Werk. Seine Lyrik wird seltener beachtet. Dabei leistet der literarische […]
Das Museum der Träume – Neue Texte zu Alten Meistern
Zeit ist realtiv. 11 Sekunden sind für einen Olympiasieg im 100-Meter-Sprint eindeutig zu lang, für einen Blick auf ein Meisterwerk der Kunst eindeutig zu kurz. 11 Sekunden, solange steht angeblich ein Museumsbesucher durchschnittlich vor einem Bild, und die Zeit zum Studieren des Titelschildchens ist da schon drin. In dieser Zeit vermag der Blick niemals durch […]
Mit Odysseus scheitern – Diskurs-Pop als Belletristik funktioniert nicht
Als Komponist, Musiker und Songwriter hat Jochen Distelmeyer alles erreicht. Seinem Weg mit der Band Blumfeld und seinen Solopfaden sind Kritiker und Fans in somnabuler Verehrung gefolgt. Diskurs-Pop sei Distelmeyers Spezialität, so heißt es; also, aktuelle politische und gesellschaftliche Probleme in Songs verpacken zu können, die eingängig sind und gefällig, trotz Tiefgangs und Klippen. Nun, […]
Noch ein Bier in der Westend Klause – Auf den Spuren von Joachim Ringelnatz in Berlin
Biografen können gnadenlos sein. „Er war klein, hässlich und er sprach mit sächsischem Akzent.“ Das sagt Hilmar Klute über Joachim Ringelnatz. So gesehen sei sein Erfolg eigentlich rätselhaft, so Klute weiter. Ausschlaggebend sei wohl sein darstellerisches Talent gewesen, das habe seine Auftritte unverwechselbar gemacht und seinen Ruhm begründet. „Er war nicht einfach nur ein Clown; […]
Pfaueninsel – Nachdenken über Arkadien
Für die preußischen Könige ist das Eiland in der Havel zunächst Rückzugsort und Traumland, ein kleines Arkadien, das mit der Kutsche schnell zu erreichen war. Doch im Laufe der Zeit wird die Insel geformt und überformt, naturalisiert und denaturalisiert, sie wird Moden unterworfen und gequält.
Ein unverzichtbares Zeitdokument: Eugen Kogon »Der SS-Staat«
Heute vor 70 Jahren haben Soldaten der Roten Armee die überlebenden Gefangenen des Konzentrationslagers von Auschwitz befreit. Dieser Tag ist ein internationaler Gedenktag und markiert das Ende einer menschenverachtenden, seelenlosen und brutalen Vernichtungsmaschinerie, die die Nationalsozialisten in ganz Europa installiert hatten. Ihr Ziel; Menschen ermorden, ohne Ansehen der Würde und ohne Mitgefühl. Wie diese Maschine […]
Verzehrt – Das Romandebüt von David Cronenberg
Kanibalismus, die Sucht nach Amputation, Selbstverstümmelung und hemmungsloser Konsumismus, das sind die Themen von Verzehrt. Im Alter von 71 Jahren versucht sich David Cronenberg in einem neuen Metier. Der vielfach preisgekrönte kanadische Filmregisseur debütiert als Romanautor. Er führt seine Leser in eine Welt voller psychisch und körperlich beschädigter Figuren, die an ihren Mängeln und Defiziten […]
Michel Houellebecq – Unterwerfung
Francois konvertiert am Ende des Buches überzeugte zum Islam. Die Hauptfigur, zugleich Icherzähler des Romans, spricht die rituelle Formel »Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Mohammed ist sein Gesandter« und beschließt mit einer beinahe mystischen Verklärung seinen geistigen Reinigungsprozess. Ab sofort ist Francois wieder ein vollwertiges Mitglied der französischen Gesellschaft. »Ich hätte nichts zu […]