Hybris und Dünkel führen in die Katastrophe – »Das Floß der Medusa« von Franzobel
Eine schonungslose Schilderung vom Untergang der Menschlichkeit. Vom »Floß der Medusa« wurde in Literatur, bildender Kunst und Film bereits häufig erzählt. Dem großen Narrativ vom Verlust der Zivilisation in der Katastrophe hat Franzobel mit seinem Roman eine überzeugende und zeitlos gültige Variante hinzugefügt.
Überleben mit Lügen und Liebe – »Das kalte Blut« von Chris Kraus
Zwei ungleiche Brüder, eine verhängnisvolle Menage á trois, Geheimdienste und Nazis, die ihre Biografien nach dem Zusammenbruch reinwaschen und nahtlos weitermachen. Chris Kraus vermischt in »Das kalte Blut« Liebe, Lügen und Verrat. Eine süffige Mixtur, die aber hier und da einen bitteren Beigeschmack hat.
Der Tisch – Aus meinem Leben als Leser und Sammler
Der Tisch in meiner Bibliothek. Immer wieder werde ich gefragt, was es mit dem auf sich hat. Kurz: er ist eine Art Basislager. Hier landet alles, was künftig gelesen werden will. In einem Video erklär ich das genauer.
Bilanz einer ersten Woche – »Meine Zeit mit Ulrich (2)«
Ich liege im Plan, mehr noch, das selbstauferlegte Soll wird übererfüllt. Mehr als 15 Seiten pro Tag bin ich lesend in »Der Mann ohne Eigenschaften« vorangekommen. Genuss und Mühe gehen dabei Hand in Hand, denn so viel Meisterschaft und Perfektion, soviel Bravour und Glanz fordern heraus.
Baden gehen – »Walter Nowak bleibt liegen« von Julia Wolf
Ein Mann liegt bewegungslos in seinem Badezimmer und rechnet in einem inneren Monolog mit seinem Leben ab. Julia Wolf liefert das perfekte Psychogramm eines Alphatierchens. Diese Männerstudie ist tragisch und komisch zugleich.
Eine Parallelaktion startet – »Meine Zeit mit Ulrich«
Ich starte ein besonderes Projekt. Ich lese »Der Mann ohne Eigenschaften«, ungekürzt, Minimum 15 Seiten pro Tag. Anlass ist zum einen die neue, leserorientierte Werkausgabe im Verlag »Jung und Jung« und zum anderen Musils 75. Todestag. Er starb verarmt und vergessen am 15. April 1942 im schweizer Exil.
Philosophenalltag und Fischgrätengras – »Lampe und sein Meister Immanuel Kant« von Antje Herzog
Immanuel Kant war Mathematiker, Professor, Philosoph und schrulliger Zeitgenosse. Er führte einen streng geordenten Alltag und seine Heimat Königsberg verließ er so gut wie nie. Antje Herzog hat Kants diszipliniertes Leben und seine Marotten unter die Lupe genommen.
Kulturelle Vielfalt oder kapitalistische Monokultur – »Bibliodiversität« von Susan Hawthorne
Bibliodiversität als Begriff bezeichnet, was nur beschrieben werden konnte. Die australische Autorin und Verlegerin Susan Hawthorne hat Bibliodiversität in ihrem Manifest klar und knapp definiert. Im LCB diskutierte sie über ihre Thesen mit Jonathan Landgrebe und Klaus Lederer.
Entscheidend ist Leidenschaft – Das war meine Leipziger Buchmesse 2017
Leipziger Buchmesse, das ist wie Familientreffen, Klassenfahrt und Kindergeburtstag. Dies könnte ein langer Bericht sein über Gespräche, Begegnungen, Entdeckungen, Enttäuschungen und Messe-Albereien. Aber wer will schon barocke Weitschweifigkeit? Deshalb drei, vier, fünf Highlights.
Einstecken und austeilen – »Ellbogen« von Fatma Aydemir
Die Icherzählerin Hazal breitet ihre Geschichte vom Überleben im Wedding aus, von Ellbogen in den Rippen, von einer Gewalttat und von einer Flucht. Fatma Aydemirs Debütroman zeigt, warum junge Menschen aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration keine Identität finden.
Ein Leben gezimmert aus Lüge und Betrug – »Mittellage« von William H. Gass
Joseph Skizzen ist Musikprofessor an einer kleinen Universität im mittleren Westen der USA. Sein Leben ist geordnet, im Mittelmaß gefestigt. Doch das ist alles Lüge. Joseph Skizzen thront auf einem Gerüst aus Betrug und Schwindelei.
Erschöpft und zerknirscht im Besenwagen – Kein Kandidat für den Blogbusterpreis von »lustauflesen.de«
Das Peleton entschwindet Richtung Ziel. Ich sitze im Besenwagen. Ich danke allen Autorinnen und Autoren für ihr Vertrauen, aber leider habe ich unter ihnen keinen Favoriten für die Schlussetappen des Rennens gefunden.
Spirituelle Tortur und Überlebenskampf – Der Film »Silence« von Martin Scorsese
Martin Scorsese bezeichnet die Verfilmung des Romans »Schweigen« von Shūsaku Endō als Herzensangelegenheit. In langen Einstellungen entwickelt der Film große Wucht und verhandelt die außergewöhnliche Kraft des menschlichen Glaubens.
Die Kunst ist das Flüstern der Geschichte – »Der Lärm der Zeit« von Julian Barnes
Meisterhaft erzählt Julian Barnes in seinem jüngsten Roman vom Überlebenskampf eines Künstlers in der Diktatur. »Der Lärm der Zeit« ist weit mehr als eine Biographie des Komponisten Dmtri Schostakowitsch.
Schicksale in Schieflage – »Betrunkene Bäume« von Ada Dorian
Sie sei eine optimistische Melancholikerin, sagt Ada Dorian über sich. In ihrem heiter-tragischen Debütroman beschreibt sie, wie sich Menschen in die Einsamkeit manövrieren und sich trotz sozialer Kontakte und Familie durch mangelnde Kommunikation isolieren.
Lyrisches Lunchpaket – Die »Chinabox« aus dem Verlagshaus Berlin
Zeitgenössische Lyrik? Aus China? Geh weg! – Im Falle der »Chinabox« wäre diese Haltung ein Fehler. Die Sinologin und Übersetzerin Lea Schneider hat eine sehr lesenswerte Sammlung zeitgenössicher Lyrik aus der Volksrepublik zusammengestellt.
Melancholischer Sommer in Yorkshire – »Ein Monat auf dem Land« von J. L. Carr
Ein Fresko wird freigelegt und eine Seele gerettet. J. L. Carr erzählt, wie ein vom Ersten Weltkrieg traumatisierter Mann langsam sein Gleichgewicht wiederfindet. »Ein Monat auf dem Land« ist eine elegante und leichtfüßige Novelle mit Gewicht. Ein trost- und mutspendendes Büchlein.
Die Bibel als Buch für Leser – Adam Green hat sein Großprojekt »Bibliotheca« abgeschlossen
Vor zweieinhalb Jahren bestellt und … tadaa, schon geliefert! – Ich halte endlich »Bibliotheca« in meinen Händen. Das Warten auf diese aussergewöhnliche Bibelausgabe hat sich gelohnt. Hier die ganze Geschichte hinter diesem bemerkenswerten Vorhaben und seinem bibliophilen Ergebnis.
Nennt mich Archie Ferguson – »4321« von Paul Auster
Paul Auster hat sein Opus Magnum abgeliefert. »4321« hat mich umgehauen und tief berührt. Selten empfand ich einen so umfangreichen Roman gleichzeitig so kurzweilig und aufpeitschend. Für mich war es ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit und ich wünsche mir, andere erlebten es genauso. Ein Meisterwerk.
Der Tod des Autors als strukturalistisches Abenteuer – »Die siebte Sprachfunktion« von Laurent Binet
Roland Barthes wird von einem Wäschereilaster niedergemäht, ein Manuskript verschwindet und eine wilde Jagd beginnt. Wer jemals in die Tiefen der poststrukturalistischen Theorie abgetaucht ist, findet hier seinen Spaß. »Da Vinci Code« für Dekonstruktivisten.
Wir werden den Tod schwerlich los – »Null K« von DeLillo
Don DeLillo, der Altmeister des Postmoderne, meditiert in »Null K« über den Tod, die Unsterblichkeit und das Leben. Eine anregende Lektüre, die große Fragen stellt und letztlich ein vehementes Plädoyer für ein Leben im hier und jetzt vorträgt.